Modeling Nature
Natur hat in gegenwärtigen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten Konjunktur. Weiterentwicklungen innerhalb der Politischen Ökologie, die Rezeption des in der Geologie geprägten Begriff des Anthropozäns oder kulturwissenschaftliche Ansätze wie Eco-Criticism, Material Turn oder Cultural Animal Studies bieten hier nur einige prominente Beispiele. Ihre Dynamik gewinnen die Diskussionen sowohl aus einem als immer akuter empfundenen Handlungsdruck als auch aus grundlegenden konzeptuellen Spannungen. Wenn der Mensch der Natur nicht gegenübersteht, sondern selbst Natur ist, und wenn sich umgekehrt kaum noch eine von menschlichen Eingriffen freie Natur antreffen lässt, dann ist den kategorischen Unterscheidungen von Natur und Mensch, Natur und Geist oder Natur und Kultur der Grund entzogen. Damit wird zwar die Idee der Natur selbst zunehmend problematisch. Dennoch fällt es nach wie vor schwer, ohne Natur als Differenzkategorie (zur Kultur, Technik, Geschichte etc.) die Fallen des szientistischen Naturalismus und des kulturalistischen Konstruktivismus gleichermaßen zu vermeiden. Aus der Wissenschaftssoziologie, Ethnologie, Anthropologie, Philosophie und Literaturtheorie sind Vorschläge gemacht worden, Natur jenseits geläufiger Dualismen, eine Natur nach der Natur oder in letzter Konsequenz eine Natur ohne Natur zu denken. So reagiert auf das ›Ende der Natur‹ (McKibben) eine ›Ökologie ohne Natur‹ (Morton), der ersten und zweiten Natur wird eine dritte Natur zur Seite gestellt, das auf den Menschen fixierte Konzepte des ›Anthropozän‹ wird mit Begriffsbildungen wie ›Eurozän‹, ›Technozän‹ oder ›Chthulucene‹ (Haraway) beantwortet, der ›Idee‹ der Natur soll in Ansätzen zu einem ›New Materialism‹ eine neue Grundierung verschafft werden.
Die Profilinitiative möchte diese Impulse aufgreifen, die zeitgenössische Diskussionslage sichten und durch die gemeinsame Analyse globaler sozialer und künstlerischer Praktiken anreichern. Gegenstand des Arbeitsprogramms sind Modellierungen der Natur im weitesten Sinn. Ausgehend von den kulturellen Perspektivierungen eines schwer greifbaren, gerade deshalb aber so aufschlussreichen Gegenstandsbereichs – ›Natur‹ – sollen seine künstlerischen, wissenschaftlichen, technischen und sozialen Verzweigungen verfolgt werden. Der Begriff der Modellierung benennt dabei den fortwährenden Übergang zwischen epistemischem Zugriff und praktischem Eingriff, zwischen Interpretation und Manipulation, zwischen Repräsentation und Veränderung. Er zielt zugleich auf die Beschreibung, Darstellung und Konstruktion wie auch auf die Zurichtung der Natur wie auch auf den Abgleich von wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Praktiken im Umgang mit Natur. Ziel der hier gebündelten Forschungen ist die Einordnung aktueller Diskussionen sowohl in neu interpretierte historische Traditionslinien der Naturdenkens als auch die Reflexion auf ihre jeweiligen darstellungstheoretischen und medialen Bedingungen.
Bereits die von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderte Forschungsstelle »Naturbilder / Images of Nature« (2013-2018) hatte den Zusammenhang zwischen visuellen Repräsentationen und abstrakten (wissenschaftlichen, philosophischen) Konzeptionen von Natur im Blick. Die Profilinitiative »Modellierungen der Natur« schließt hier an und führt zugleich aktuelle Forschungsansätze an der UHH zusammen, die sich momentan in den DFG-Kolleg-Forschungsgruppen »Imaginarien der Kraft / Imaginaria of Force« (seit 2019) und im Bereich der Soziologie und Ökonomie angesiedelten Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« zentrieren. In der Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« wird unter anderem zur Auffassung von Naturkräften in der longue durée seit der der Antike, verstärkt seit der Frühen Neuzeit geforscht. Zu den hier verfolgten Fragen gehören Modelle des ökologischen Gleichgewichts in Naturphilosophie und Ästhetik, (Dis-)kontinuitäten einer Wahrnehmung der Natur als Landschaft, literarische und künstlerische Katastrophennarrative, Verhältnisbestimmungen von Natur und Technik in Kultur und Literatur bis hin zu ästhetischen Gestaltungsproblemen der Energiewende. Das multidisziplinäre Forum »Die Energiewende GESTALTEN – Ästhetische, gesellschaftliche und ökologische Herausforderungen« adressiert diesen Zusammenhang. Die Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« (seit 2019) erforscht unterschiedliche auf ›Nachhaltigkeit‹ gerichtete Ziele und Zukunftsvorstellungen, die sich unter anderem auch im Umgang mit Fragen des ökologischen Notstands und der ökologischen Modernisierung formieren. Einbezogen sind auch Forschungsansätze aus den Kulturwissenschaften (Archäologie, Ethnologie), die in historischer und globaler Perspektivierung Visualisierungen von human impact bzw. im Sinn des environmental pluralism das Verhältnis von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen untersuchen.