Projektleitung: Prof. Dr. Annika Herrmann, Thomas Hanke (seit 01.04.2017, zuvor: Prof. Dr. Christian Rathmann)
(Fachbereich SLM I, Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser)
Laufzeit: 2009–2027
Unter Gehörlosen haben sich über Jahrhunderte visuelle Sprachen herausgebildet, die jedoch keineswegs identisch sind mit der gestischen Körpersprache Hörender: Vielmehr handelt es sich um eigenständige Sprachen, die über einen umfassenden Wortschatz und eine komplexe Grammatik verfügen. Lexikalische Gebärden sind nach Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung strukturiert und können nach linguistischen Regeln im sog. Gebärdenraum ausgeführt werden. Darüber hinaus spielen Mimik, Körperhaltung und Mundbewegungen für die Bildung von Sätzen und für den Aufbau von Texten eine große Rolle. Gebärdensprachen sind natürlich etablierte Sprachen: Die nationalen Gebärdensprachen unterscheiden sich zum Teil erheblich, Gebärdensprache ist also nicht – wie häufig angenommen – international. Auch innerhalb der Deutschen Gebärdensprache gibt es regionale Unterschiede.
In einem Langzeitprojekt der Akademie der Wissenschaften in Hamburg wird ein elektronisches, korpusbasiertes Wörterbuch der Deutschen Gebärdensprache erstellt. Das Projekt ist auf 15 Jahre angelegt (Beginn: 1. Januar 2009) und wird am Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser der Universität Hamburg durchgeführt. Aus dem Akademienprogramm zur Förderung geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung, das von Bund und Ländern getragen wird, stehen dafür insgesamt 8,5 Mio. Euro zur Verfügung.
Ziel des Projekts ist zunächst eine umfassende Sammlung gebärdensprachlicher Daten: Hierzu wurden in der ersten Projektphase Gebärden von ca. 330 gehörlosen Informanten aus dem gesamten Bundesgebiet erhoben. Diese wurden per Video aufgezeichnet und werden fortlaufend systematisch, mithilfe einer eigens entwickelten Datenbank (iLex) verarbeitet und analysiert. Dieses Korpus, das mehrere hundert Stunden Videomaterial umfasst, bildet die Grundlage für die Erstellung des Wörterbuchs. Ein Teilkorpus wurde Ende 2015 veröffentlicht.
Die Auswahl der Stichwörter für das korpusbasierte Wörterbuch wird sich dabei in erster Linie auf die tatsächliche Gebärdenanwendung stützen – im Unterschied zu bisherigen Gebärdensammlungen, die von einer deutschen Wortliste ausgingen. Das Wörterbuch wird ca. 6000 Gebärdeneinträge umfassen. Es ist bidirektional angelegt, d.h. es kann in beide Richtungen nachgeschlagen werden, ausgehend von einer Ge-bärde oder einem deutschen Wort.
Da es sich bei der Gebärdensprache um eine visuelle Sprache handelt, wäre das Pro-jekt ohne moderne Technologien kaum denkbar: Die Gebärden werden als Filme gezeigt, die elektronische Datenbank erlaubt vielfältige Kombinations- und Such-strategien, z.B. auch die Suche nach Gebärdenformen.
Mit der Erstellung dieses Korpus und Wörterbuchs wird die in Deutschland verwen-dete Deutsche Gebärdensprache zum ersten Mal systematisch erfasst und analysiert. Während in der linguistischen Erforschung der Lautsprachen korpusbasierte Methoden mittlerweile sehr verbreitet sind, steckt die entsprechende Grundlagenforschung zur DGS noch in den Anfängen.
Die Erstellung eines DGS-Korpus ist von besonderer Bedeutung, da die DGS bisher kaum systematisch dokumentiert ist: Es existieren signifikante soziolinguistische Variationen (dazu zählen auch regionale und individuelle Unterschiede) in ihrer Verwendung. Diese verschiedenen Formen der DGS zu erfassen und zu dokumentieren, ist ein zentrales Ziel des Korpus. Über die Entwicklung des Wörterbuchs hinaus wird das Korpus auch langfristig eine Vielzahl von Möglichkeiten für die empirisch fundierte Erforschung der DGS bieten.
Für die Gehörlosengemeinschaft hat das Projekt auch einen hohen ideellen Wert: Die traditionelle Gehörlosenpädagogik wertete bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gebärdensprachen als bloßes nicht-sprachliches Gestikulieren ab; auch von der Sprachwissenschaft wurde sie kaum als Forschungsgegenstand wahrgenommen. Die Gebärdensprachgemeinschaft ist von Anfang an in die Erstellung des Korpus und des Wörterbuchs einbezogen – auch über die aktive Beteiligung der Gebärdensprach-Informanten hinaus: So wurde zu Beginn des Projekts eine Umfrage unter den potentiellen Nutzern des Wörterbuchs durchgeführt. Die verschiedenen Nutzergruppen – DGS-Muttersprachler wie gehörlose Erwachsene oder Kinder gehörloser Eltern, DGS-Lerner wie Spätertaubte, Eltern oder Lehrer gehörloser Kinder sowie Gebärdensprachdolmetscher und Linguisten – werden nach ihren Bedürfnissen und Erwartungen an das Wörterbuch befragt. Darüber hinaus findet seit einem Jahr ein Internet-basiertes Feedback-Verfahren statt, das es Mitgliedern der Gebärdensprachgemeinschaft erlaubt, ausgewähltes Material zu beurteilen und zu kommentieren. Eine laufend aktualisierte Projekthomepage informiert regelmäßig über den Fortgang des Projekts.
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